Der unersättliche Adler
31. Juli.
Über die Liebe und das Wesen der Liebe wird so viel gesprochen und geschrieben.
Die Frage ist dieser Tage brennend geworden, da der romantische Doppelselbstmord auf Taasinge die Gemüter in Bewegung versetzt hat. Überall wird von dem Irrsinn erzählt, der einen jungen Mann aus der besten Familie des Landes dazu bringt, Frau und Kinder zu verlassen, aus einer vielversprechenden Karriere auszubrechen und seinen Namen und sein Ansehen aufzugeben, um einer Abenteurerin, einer Zirkusartistin in Armut und Schande und schließlich in einen jämmerlichen Tod in einem fremden Land zu folgen.
Die Angelegenheit selbst wird unterschiedlich beurteilt, – wie etwa neulich das entsprechende Drama in Mayerlingen. Von manchen hört man Rufe über "die Zeit der großen Gefühle", die zurückgekehrt sei1, während andere dem Verhältnis der beiden den Namen der Liebe gänzlich aberkennen und es schlichtweg als bestialisch bezeichnen.
Aber uns alle beschleicht ein gewisses heimliches Grauen, jedes Mal, wenn die gezähmte und wohl abgerichtete Liebe unserer Zeit plötzlich ihre Ketten sprengt und sich uns in ihrer wahren, wilden Erscheinung als unersättlicher Adler zeigt, der das Herz des Menschen zerrupft. Man scheint aus der Menge einen Ruf der Beklemmung zu hören, wie der, der auf einmal die sorglose Heiterkeit auf einem Marktplatz unterbrechen kann, wenn es von einem der Zelte plötzlich ertönt: Das Tier ist ausgebrochen!
Wir versuchen uns ständig zu unserer eigenen Beruhigung einzubilden, dass die Liebe bildlich am besten wie ein weißes Taubenpaar darzustellen ist, das miteinander schnäbelt. Daher das Entsetzen, jedes Mal, wenn der Adler mit seinen Flügeln schlägt.
Urbanus.
