Ein Hund

Ich wohne in einer kleinen Straße1 in Vesterbro. Zwar besteht sie nur aus fünf Häusern, doch wie selbst das kleinste Gässchen in dieser Stadt hat auch sie ihren Hund.

Ein großer, schmutziger, blaugrauer Teufel mit triefenden Lefzen und entzündeten Augen. Wenn er mit seinem schwabbeligen Körper die Straße entlang watschelt, schaukelt sein Wanst unter ihm hin und her wie bei einem Schwein. Und wenn er sich – wie es seine Gewohnheit ist – quer über den Gehsteig legt und diesen somit unpassierbar macht, bleibt den Damen, denen es der Anstand verbietet, einfach über das Kamel hinwegzusteigen, nichts anderes übrig, als den Weg über die schlammige Fahrbahn zu nehmen, um vorbeizukommen. Das Biest denkt nämlich nicht daran, sich zu erheben, selbst wenn man mit einem Stock nach ihm sticht. Es blickt einen höchstens mit seinen widerlichen Augen an und wedelt ein wenig mit seinem fetten, wurstförmigen Schwanz.

Jede Nacht pünktlich zwischen zwölf und zwei – und manchmal sogar noch länger – hält er die gesamte Nachbarschaft mit einem abscheulichen Heulen und Jaulen wach, gegen das wir vergebens versucht haben einzuschreiten. Der Besitzer, ein Kellerbewohner, behauptet nämlich, dass der Köter das friedfertigste Tier der Welt sei. Ja, er könne nicht einmal bellen, was er – wie er sich ausdrückt – "schon häufig gehört" habe.

Auf dieselbe Weise reagiert er auch auf die anderen Unannehmlichkeiten, die den Anwohnern täglich durch dieses Biest entstehen. So ist es darauf gekommen, unsere Treppenaufgänge für gewisse unerfreuliche Bedürfnisse zu benutzen und seine Visitenkarte auf unseren Fußmatten zu hinterlassen, sodass wir fast überall das alles andere als wohlduftende Andenken an "Kaisers" Besuch finden können.

Wendet man sich in dieser Angelegenheit jedoch an den Besitzer, antwortet dieser mit völliger Gelassenheit, dass sein Hund das reinlichste Tier unter der Sonne sei. Und versucht man, weiter auf ihn einzudringen, fertigt er einen mit der Frage, ob "man es vielleicht gesehen habe", ab.

Noch auf manch andere Weise macht uns dieser himmlische Hund das Dasein zur Hölle. Steht man beispielsweise nur einen Moment lang vor seiner Haustür, um einen Freund zu verabschieden – schon kommt das Vieh angewackelt und reibt einem seinen Schwabbelleib ans Bein. Und es hilft nichts, sich mit wütenden Worten und Drohungen zu wehren. Mit wollüstiger Kameratschaftlichkeit drückt es seinen abstoßenden Leib an einen und lässt nicht ab, ehe man sich hinter der Haustür verschanzt hat.

Doch all das sind nur Nichtigkeiten im Vergleich zu seinem Verhalten gegenüber Kindern.

Ich habe zwei kleine Töchter2 im Alter von acht und fünf Jahren. Die eine geht in die Schule, die andere in den Kindergarten. Jeden Nachmittag laufen sie zusammen nach Hause – jedoch nicht länger ohne Begleitung.

Letzten Herbst, kurz nachdem wir in diese Wohnung gezogen waren, hörte meine Frau eines Tages ein angsterfülltes, krampfartiges Geschrei von der Straße. Sie erkannte sofort die Stimmen ihrer Kinder und eilte zum Fenster, von wo sie die zwei armen Kleinen gepresst gegen die Wand des Nachbarhauses stehen sah, ganz blass vor Angst, während der riesige Hund in Kampfstellung vor ihnen stand und ihnen bellend seine Schnauze entgegenstreckte. Je furchtsamer sie schrieen, desto lauter bellte er; und der Herr aus dem Keller stand lächelnd in seiner Tür und rief:

"Kümmert euch nicht darum, Kinder – der tut nichts, er spielt bloß – er spielt doch bloß!"

Natürlich wurde das Dienstmädchen sofort nach unten den Kindern zu Hilfe geschickt. Doch noch am Abend lief die Jüngste ganz bleich herum, geschüttelt von einer Angst, die sie vielleicht nie mehr überwinden wird. Und keine von ihnen ist seitdem im Stande, allein auf die Straße zu gehen, sondern beide müssen in die Schule und wieder zurück begleitet werden. So mussten wir nur aus dem Grund ein weiteres Mädchen einstellen – alles wegen "Kaiser".

Ein Menschenfreund.

P. S. Ich hatte diese Zeilen gerade beendet, als ich von meinem Fenster aus Zeuge folgender weiterer Kaiser-Tat wurde:

Das blaugraue Ungeheuer hatte sich wie gewöhnlich mit seinem fetten Leib quer über den Bürgersteig gelegt, als ein kleiner mittelloser Junge mit zufriedener Miene um die Ecke bog, eine Schüssel mit dampfendem Essen vorsichtig in den Händen haltend. Da das Tier keine Anstalten machte sich zu erheben, sodass der Junge mit seiner kostbaren Bürde vorbeikommen könnte, stieg dieser bedachtsam über es hinüber. Vermutlich vernahm das Biest jedoch den Duft des heißen Essens, denn gerade als der Junge eines seiner kurzen Beine sicher auf der anderen Seite abgesetzt hatte, erhob es sich plötzlich ungewohnt behändig und stieß den Jungen um; die Schüssel zersplitterte auf dem Pflaster, woraufhin das Tier augenblicklich die eine Hälfte des Inhaltes – eine Scheibe warmen Schweinefleischs – in sich hinein schlang. Die andere Hälfte – gekochte Erbsen – fand dagegen keine Gnade vor seinen Augen.

Nun steht der Junge neben den Scherben und weint herzerweichend, während Kaiser in aller Ruhe wieder seinen alten Platz auf dem Gehsteig eingenommen hat und sich zufrieden die Schnauze leckt.

Ich wüsste gern, ob es in dieser Königsstadt auch nur eine einzige Straße gibt, die nicht von wenigstens einem solchen Kaiser beherrscht wird.

 
[1] Straße: HP wohnte im Engtoftevej, einer kleinen Seitenstraße zur Frederiksberg Allé, die zu diesem Zeitpunkt zu Vesterbro gehörte. tilbage
[2] zwei kleine Töchter: Kleine Töchter: Hier wird es fiktional: Johanne war noch nicht ganz fünf, der Sohn Hans zwei, außerdem wohnten die beiden mit ihrer Mutter in der Pile Allé. tilbage