Morgenwanderung

Kopenhagen ist weiß Gott keine Morgenstadt. Wohl nirgends sonst in der weiten Welt schläft eine ganze Stadt so friedlich und lange wie hier. Auch nach sechs Uhr früh sind die Straßen zu dieser Jahreszeit noch tot und still. Es scheint, als schliefen selbst die Laternenfeuer in dem dunklen Nebel, der über der Stadt ruht. Ab und an holpert ein schneller Bäckerwagen durch die Straße und verbreitet einen appetitweckenden warmen Duft, der sich mancherorts brüderlich mit dem weniger erfrischenden Geruch der großen nächtlichen Rüstwagen1 vereint, die gerade die Stadt verlassen haben. Hie und da ist eine verfrorene Gestalt hervorgekrochen, um den Rinnstein zu fegen, und an den Ecken stehen die schlaftrunkenen Polizisten, die tauben Hände in die Manteltaschen gesteckt wie in einen Muff. Aber noch kein einziges Geschäft hat geöffnet, nirgendwo gibt es ein anständiges Café, in dem ein Morgenmann etwas Warmes in den Leib bekommen kann. Von einer einzigen Backstube scheint zwar Licht; aber sollte man sich dort hinein wagen, um den schlimmsten Hunger mit einem warmen Brötchen zu stillen, wird man unausweichlich für einen heimkehrenden Nachtschwärmer gehalten und erhält bloß harsche Worte als Antwort auf seine bescheidene Anfrage.

Man hat ja jetzt hier in Kopenhagen angefangen, halbwegs gewissenhaft für diejenigen zu sorgen, die aus Notwendigkeit, Lust oder Gewohnheit die Nacht zum Tage machen. Und dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Es scheint auch nur angemessen, ein wenig an jene zu denken, die entweder notwendigerweise oder gewohnheitsmäßig mit den Hühnern aufstehen müssen, – für gewöhnlich sind dies nämlich nicht die unbrauchbarsten Mitglieder der Gesellschaft.

Das meiste Mitleid scheinen mit Recht die Unglücklichen fordern zu können, die – wie ich selbst neulich – den Auftrag bekamen, die alte Tante Abelone vom jütischen Dampfer abzuholen, der um sieben Uhr morgens an der Kvæsthusbrücke ankommt. Wer Tante Abelone kennt, oder nur einen Schimmer ihres Gesichtes gesehen hat, kann sich denken, wie viele Augen ich in der Nacht schloss, bevor ich den berüchtigten Auftrag ausführen sollte. Aus lauter bebender Angst davor, was passieren würde, falls ich verschlafen sollte, schloss ich nicht eines. Schon um sechs Uhr war ich deshalb auf den Beinen und wanderte zähneklappernd durch die leere Stadt.

Noch vor halb sieben erreichte ich die Kvæsthusbrücke, an der Dunkelheit und Beklemmung herrschten. Meine Glieder zitterten, mein leerer Magen knurrte vor Hunger. Aber nicht einmal hier gab es Schutz, geschweige denn Erquickung irgendeiner Art zu finden, obwohl außer mir schon ein halbes Dutzend andere Unglückliche dort unten im Morast wie zitterndes Espenlaub mit blautauben Händen und Füßen wie zwei Eisklumpen in den nassen Stiefeln herumtappten. Denn es blies ein beißender Sturm von der See, und ab und an gingen Regenschauer nieder, die die Brücke zu einem völligen Sumpf machten.

Zuletzt wurde ein Raum in einem Packhaus geöffnet und erleuchtet, in dem wir armen Wartenden, deren Zahl immer noch stieg, uns aufhalten durften. Aber in der gesamten Nachbarschaft, die immer mal wieder einer von uns absuchte, war noch kein einziger Ort geöffnet, an dem man einen Tropfen Heißes für seinen erschöpften Leib bekommen könnte.

Es scheint wohl nicht zuviel verlangt von "der Vereinigten"2, dass sie einen anständigen Wartesaal für die Vielen bereit hält, die täglich – und viele Male täglich – stundenlang auf die Passagiere warten müssen. Auch scheint es nicht zu anspruchsvoll zu erwarten, dass die Gesellschaft zur eigenen Information und der der Gäste telegrafisch Nachricht erhielte, sobald die jütischen Schiffe – besonders bei Unregelmäßigkeiten – Helsingør passiert haben. Vielleicht geht das nicht, wenn das Passieren nachts stattfindet. Aber tagsüber ist es nicht schwierig, und dann könnte man doch in etwa berechnen, wann die Schiffe in Kopenhagen zu erwarten sind.

Aber wie erging es mir und all den anderen Pechvögeln an diesem Tag?

Sieben Uhr war wie gesagt als Ankunftszeit vorgesehen. Die Stunden vergingen, der Morgen dämmerte, und die Uhr schlug acht, neun, zehn – aber noch immer keine Spur von Tante Abelone.

Ich wagte es nicht, mich von dort zu entfernen, denn am Schalter hieß es, das Schiff werde "jeden Augenblick" erwartet. Und was von mir übrig bleiben würde, sollte es genau dann kommen, während ich mich bei einem heißen Steak am St. Anna-Platz verjüngte – das brauche ich denen nicht zu erzählen, die bloß einmal Tante Abelones Gesicht gesehen haben, wenn sie wütend ist.

Als es zwölf schlug und die Knie unter mir vor Kraftlosigkeit und Erschöpfung zu zittern begannen, wandte ich mich erneut respektvoll an einen Mitarbeiter der Gesellschaft, um Auskünfte zu erhalten. Aber der werte Graubart betrachtete mein leidendes Gesicht nur mit einem verächtlichen Blick und fügte die väterliche Ermahnung hinzu, dass ich es mit solch naseweisen3 Fragen in der Welt nicht weit bringen würde. Woraufhin er mir seinen kräftigen Rücken zuwandte.

Da sank ich träge und erschöpft auf eine leere Kiste und ließ den Sturm mit meiner armen Person verfahren, wie er wollte. Ich hörte die Uhr einer nahgelegenen Kirche zwei und drei schlagen ohne mich zu rühren, und kam überhaupt nicht zu vollem Bewusstsein, bis ich mich selbst in einer stickigen Kajüte wiederfand, Angesicht zu Angesicht mit einem Haufen wallender Kleider auf einem Sofa, zwischen denen sich eine sonderbare grünliche Masse offenbarte.

Man stelle sich mein Entsetzen vor, als ich in dieser grünlichen Masse die liebenswerten Züge meiner armen Tante Abelone erkannte. –

Wer diese Geschichte nicht glauben will, kann zur Dampfschiffabfertigung gehen und nachfragen, wann der jütische Dampfer am 22. Dezember 1888 hier in der Stadt ankam.

L.

 
[1] Rüstwagen: Müllwagen mit Latrinenabfall. tilbage
[2] die Vereinigte: Die vereinigte Dampfschifffahrtsgesellschaft (DFDS), die zu dem Zeitpunkt die meisten inländischen Routen befuhr. tilbage
[3] naseweis, im Dän. "weißnäsig": jemand, der sich unaufgefordert in anderer Leute Angelegenheiten mischt; naseweis. Pontoppidan benutzt das Wort auch in Der alte Adam, kap. 19 (SRII [=Små romaner], S. 249). tilbage