Aus der Stadt

Im Weinkeller

Wenn der Musiklehrer und königliche Hofmusikant Viktor Jensen nach beendeter Theatervorstellung und achtstündiger, ununterbrochener Unterrichtstätigkeit in den verschiedensten Stadtteilen heim in den vierten Stock eines Hinterhauses im Nørrebro-Viertel ging, das er mit einem bitteren Lächeln sein "warmes, kleines Nest" nannte, und wo ihm acht jammernde Kinder samt einem Rasiermesser von Ehefrau oft auch noch das Leben schwer machten, stieg er regelmäßig ab in eine bekannte Weinstube, die auf seinem Weg lag, und wo er mit augenblicklicher Ruhe seine angegriffen Nerven betäuben und sich geradezu Mut holen konnte, um in sein Heim des Streites und Kummers zurückzukehren, dem er sich niemals ohne einen stillen Schauder näherte.

Sein Gang dort hinunter war und ist seit vielen Jahren so konstant und sicher gewesen, dass die übrigen Stammgäste des Kellers es gar nicht mehr bemerkten, wenn seine lange, magere, gebückte Gestalt mit schlappenden Galoschen und dem Regenschirm unter dem Arm durch die Tür glitt.

Lautlos hängte er seinen alten, grauen Zylinder an den bescheidensten Platz in der langen Garderobenleiste, legte seinen karierten Schal sorgfältig darüber und setzte sich ruhig in seine abgelegene Ecke, halb versteckt hinter den Fässern, worauf der Kellner ihm sofort den obligatorischen halben Toddy1 und eine Abendzeitung brachte.

Letztere nutzte er jedoch weniger um darin zu lesen, sondern legte sie vielmehr heimlich auf die Tischplatte unter seinen Ellenbogen, um den Frackärmel zu schützen.

Mit ähnlicher Absicht untersuchte er immer ängstlich den Stuhl, ehe er sich setzte. Wenn er sich dann gesetzt hatte, legte er sorgfältig die Rockschöße über seine blank gescheuerten Knie und stellte die Stiefel unter sich, als ob er vor der Welt verstecken wollte, wie anstrengend das Leben selbst für eine "zweite Geige" in einer königlichen Hofkapelle sein kann.

In dieser Pose, nuckelnd an seinem Getränk und der starken, schwarzen Zigarre, die er vorsichtig zwischen zwei seiner langen, sehnigen Musiklehrerfinger hielt, versank er bald – alles vergessend – in stillen, träumenden Genuss.

Niemals hatte er sich unter die lärmenden Gäste gemischt; selbst der Kellner hatte ihn kaum ein Wort sprechen hören. Getragen und eingelullt von den munteren Stimmen der anderen und der weingeschwängerten Luft des Raumes schwebte er in einem Augenblick glücklicher Betäubung über den Qualen des Lebens und seinen traurigen Gedanken.

Schlag elf leckte er die letzten Tropfen von seinem Glas und erhob sich – etwas benommen von dem starken Tabak, den er nie richtig vertragen konnte, – um mit dem Hut tief im Gesicht über die windige Brücke schlurfend zum Jammer in seinem "warmen, kleinen Nest" zurückzukehren.

Eines Abends, als er wie üblich in den Weinkeller kam, trat der seltene Fall ein, dass er seinen Tisch besetzt vorfand.

Das heißt: Der Stuhl, für den er wegen des langjährigen Gebrauchs ein gewisses Gewohnheitsrecht erworben hatte, stand natürlich wie gewöhnlich da und wartete auf ihn. Aber auf der anderen Seite des kleinen, viereckigen Tisches saß, fast versteckt von einem mächtigen Fass, eine seltsam aussehende Gestalt und dämmerte über einem Glas Portwein vor sich hin.

Soweit man dies in dem schummrigen Licht erkennen konnte, war die Person ein kleiner, äußerst dicker und kahlköpfiger Mann, dessen Kleidung und ganzes Äußeres darauf deuteten, dass auch mit ihm das Leben nicht gerade behutsam verfahren war. Ohne sich von dem Lärm um ihn herum stören zu lassen, schien er ganz versunken in Gedanken. Der große, aufgedunsene Kopf hing traurig über der Brust; die Hände stützten sich kraftlos auf die geschwollenen, fetten Knie, über die ein rotes Taschentuch ausgebreitet lag, so als ob es den Kopf auffangen sollte, wenn dieser ihm vor lauter Trübsal ganz vom Hals fallen würde.

Nur alle fünf Minuten hob er den Kopf, um eine Prise zu nehmen, die er auf eine wunderlich seufzende Weise durch seine großen Nasenlöcher schnupfte, und deren Hälfte er über seiner Weste und den Frackaufschlägen verlor.

Hofmusikant Viktor Jensen musterte ihn mit einem halb scheuen, halb verdrießlichen Blick, bis er sich auf seinen üblichen Platz setzte. Gefangen in den eigenen Gedanken, vergaß er aber allmählich die Anwesenheit des Mannes ganz, und gab sich bald ungestört und vollständig seiner wohligen Betäubung hin.

Da nahm der Fremde plötzlich einen großen Schluck und rief mit fast weinender Stimme in den Raum:

"Kellner! – Einen Portwein!"

Der Kellner brachte sofort das Verlangte, fügte aber, während er das Glas auf den Tisch stellte, mit vertraulich gedämpfter Stimme hinzu:

"Herr Bondesen – das ist der sechste!"

Bei diesen Worten ging ein merkwürdiger Ruck durch die lange, träumende Gestalt des Musikers. Langsam, mit hochgezogenen Augenbrauen wandte er sich dem Fremden zu und betrachtete ihn mit aufmerksamem Blick. Zuletzt steckte er unbemerkt die Hand in die Gesäßtasche und griff nach dem Brillenfutteral, und mit den so bewaffneten Augen begann er eine erneute Musterung, während sich in seinem Gesicht immer stärker eine lebendige Unruhe zeigte.

Schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen. Er erhob sich halb vom Stuhl und sagte sehr bewegt:

"Entschuldigung, mein Herr! Ich höre, Ihr verehrter Name ist Bondesen."

Der Angesprochene hob langsam, ohne besondere Verwunderung, den Kopf und sah ihn bemitleidenswert an.

"Das ist mein Name, ja."

"Bitte um Verzeihung, dass ich so aufdringlich bin, aber … Peter Bondesen, wenn ich fragen darf?"

"Vollkommen richtig, werter Herr! … Mit Verlaub, mit wem habe ich das Vergnügen?"

Das Gesicht des Musikers leuchtete auf.

"Verzeihen Sie – aber – dann sind wir wohl alte Freunde, wir beide."

"Alte Freunde", seufzte der andere schwer – "das ist sehr freundlich von Ihnen, ich hatte noch nie Freunde, weder alte noch neue, mein Herr!"

"Ich werde mich doch wohl nicht geirrt haben … Mein Name ist Jensen. Erinnern Sie sich nicht? Ihr alter Klassenkamerad?"

"Wie? … Jensen? … Viggo Jensen?"

"Ja, Viktor Jensen … Aber erkennst du mich nicht wieder?"

"Mein Gott – ist das – ist das … Kellner, zwei Portwein!", machte sich Bondesen endlich Luft. Es hätte nicht viel gefehlt und diese beiden Wracks, die sich hier nach vierzig Lebensjahren so unerwartet wieder trafen, wären sich in die Arme gefallen.

Das wäre passiert, wenn sich in dem ersten Augenblick der beidseitigen Wiedersehensfreude nicht eine gewisse Verlegenheit über den Zustand, in dem sie sich nach so vielen Jahren wieder gegenüberstanden, breitgemacht hätte. Als sie sich dann aber an den Händen gefasst hatten, drückten sie diese mit doppelter Rührung und schauten einander mit einem Blick an, der keiner Worte bedurfte.

"Ja, mein alter Freund, so hätten wir uns das damals nicht gedacht", sagte Bondesen bloß mit zitternder Stimme, während er wieder auf seinen Stuhl sank.

Lange noch nachdem sich das erste Erstaunen gelegt hatte und sie zusammengerückt waren und jeder auf seine Weise vom Schicksal seines Lebens erzählte, griffen sie wieder und wieder gegenseitig die Hände, so als hätten sie mit diesem Treffen etwas von ihrem verlorenen Glück wiedergefunden.

Besonders der Musiker war noch immer sehr bewegt. Während sie sich einander die hellen, glücklichen Kindertage zurück in die Erinnerung riefen, legte sich allmählich eine stille, feierliche Stimmung über die beiden, und seine Augen wurden feucht.

Stück für Stück schöpften sie aus den Tiefen der Erinnerung. Was der eine noch wusste, hatte der andere aber vergessen; und da war – zuletzt wie zuerst – eigentlich nur ein einziger Punkt, an dem sich ihre Erinnerung noch in Verständnis und Klarheit traf: ihre vergangenen Jugendträume.

Offenbar war Bondesens großer Kopf auch von innen kahl geworden. Sein Leben schien aber auch eine Aneinanderreihung von Unglück und Schmach im äußersten Grad gewesen zu sein. Auf allerlei Art und Weise war er betrogen, bestohlen und gedemütigt worden. Zuletzt hatte ihn selbst seine Frau mit allem Geld und einem Frankfurter Probenreuter2 verlassen, und jedes Mal, wenn er auf dieses Thema kam, sank er vollständig hin in trostloser Verzweiflung.

Auch der Musiker verfiel zuletzt in gedankenvolles Schweigen. Er saß vornübergebeugt und sah verständnisvoll auf den Boden, aber mit einem wunderlichen Glanz in seinen Augen, als ob ein großer Entschluss in ihm reifte.

Ab und an hob er den Kopf unruhig zur Uhr, die stark auf die elf zuging, trocknete sich die Stirn und errötete leicht.

Schließlich sagte er, ohne aufzusehen, mit gedämpfter Feierlichkeit:

"Bondesen – wollen wir auf unsere Jugendträume trinken?"

"Ja, lass uns trinken!", fuhr er hoch, die Sorgen mit einer Kraftanstrengung geradezu von sich schüttelnd. – "Kellner! Zwei …"

Aber der Musiker legte die Hand auf seinen Arm und wandte sich zum herbeieilenden Kellner.

"Eine Flasche Champagner", sagte er, während er wieder leicht errötete.

"Wie? – Eine Flasche Champagner?", fragte der Kellner und sah erstaunt von dem einen zum anderen.

Er nickte. Und als auch Bondesen seine Einwände kundtun wollte, legte er wieder die Hand auf dessen Arm und sagte, wie in heimlicher Ekstase:

"Lieber Freund – heute Abend wollen wir unsere Jugend noch einmal erleben."

Ein wenig zitterten die langen, sehnigen Musiklehrerfinger doch, als er kurz danach den gehäkelten Geldbeutel aus der Hosentasche griff und aus einem kleinen, sorgfältig zusammengelegten Stück weißem Papier eine Goldmünze hervorzog, die die erste Rücklage für die Wohnungsmiete des kommenden Halbjahrs war.

Als die Rechnung gemacht war, steckte er die Geldbörse schnell in die Tasche zurück, um nicht durch deren Leere daran erinnert zu werden, was er nun vergessen wollte. Und schon nach dem dritten Glas schien alles Gegenwärtige aus seiner Erinnerung fort gewesen und durch die Freude über den verlorenen, aber wiedergefundenen Jugendfreund ersetzt worden zu sein.

Zuletzt hob er sein perlendes Glas und sagte nach kurzem Bedenken, mit einer eigenartig wehmütigen Heiterkeit:

"Bondesen – weißt du, an was ich zuerst dachte, als ich deinen Namen hörte?"

"Nein, lieber Freund – sag es mir!"

"Ja, jetzt wirst du lachen – aber es war ein Ball bei Kaufmann Thygesen – erinnerst du dich? – Thygesen am Markt?"

"Aber, lieber Freund, ich meine, er hieß Olufsen?"

"Nein, nein – Olufsen war in der Hestestræde – an der Ecke, du weißt schon."

"Hestestræde? … Ach ja, ja – was man doch alles vergisst! – Aber was hast du noch gesagt, – ein Ball?"

"Ja, zur Weihnachtszeit, weißt du noch? – Du warst dabei. Das war der erste Ball, an dem ich Handschuhe trug. Ich war vierzehn Jahre und – was klingt das doch merkwürdig! – ich eroberte die jungen Schönheiten im Sturm, im Sturm! Aber da war besonders eine … ich sehe sie noch deutlich vor mir Quadrille tanzen mit ihren hochhackigen Schuhen und ihren Zöpfen mit den roten Schleifen, die den Rücken hinunterhingen – das war meine erste große Liebe."

"Ach ja – die Liebe!", seufzte Bondesen mit zum Himmel gewandten Augen und den Händen über seinen dicken Bauch gefaltet.

"Aber weißt du, wer sie war?"

"Nein."

"Deine Schwester."

"Meine Schwester?"

"Ja."

"Nein, lieber Freund, sieh es mir nach, diesmal ist es wirklich dein Gedächtnis, das dich täuscht."

"Bestimmt nicht – es war Pauline – die später Hansen heiratete."

"Was? Hansen! Dieser Dieb! Er hat mich übers Ohr gehauen – Gott vergebe ihm – betrogen um zwanzig Tonnen Roggen hat er mich und sogar noch die Frechheit, mir …"

"Aber guter Gott, Bondesen – deine Schwester war ja …"

"Aber guter Gott, Jensen, ich hatte niemals eine Schwester – nie – außer meiner Zwillingsschwester, die zwei Stunden nach ihrer Geburt starb, und sich in sie zu verlieben, hat keiner einen Grund gehabt."

"Das muss ein Missverständnis sein", sagte der Musiker plötzlich unruhig – "du bist doch Peter Bondesen, nicht wahr?"

"Peter Anton Frederik Bondesen, ja."

"Sohn des Metzgermeisters Bondesen in Ringsted?"

"Ringsted? Lieber Freund, was erzählst du von Ringsted. Ich war niemals in dieser Stadt. Mein Vater war ein ehrlicher Händler in Skjælskør, wo auch ich einmal hoffe, mit Gottes Hilfe und mich der Achtung aller erfreuend meine Ruhe zu finden."

"Entschuldigung, mein Herr!, sagte der Musiker leichenblass. "Aber, dann muss das Ganze ein Irrtum sein. Dann – dann kennen wir uns ja gar nicht. Ich bitte Sie um Vergebung, dass ich Sie aufgehalten habe … das … das …"

Er verbeugte sich steif, zog sich in aller Eile an und war zu Tür hinaus. Und während der andere in Ruhe den Rest der Flasche leerte, schlurfte er schnell und mit dem Kopf im Kragen seines Fracks verborgen die dunklen Straßen entlang nach Hause.

Als er über die windige Brücke ging, bekamen seine Finger ein kleines, sorgfältig zusammengefaltetes Stück Papier zu fassen, das er – wohl in Gedankenlosigkeit – in die Tasche gesteckt hatte. Er wollte es nicht sehen und ließ es mit dem Wind fortfliegen. –

 
[1] Vermutlich ist mit "Toddy" ein aus Amerika stammendes, dem Grog ähnliches heißes Getränk aus hochprozentigem Alkohol, Zucker und Wasser gemeint, das zu dieser Zeit auch gerne in den skandinavischen Ländern getrunken wurde. tilbage
[2] Probenreuter: dän. prøverytter; von Probe (dän. vareprøve) + Reuter, Reiter (dän. rytter); spöttisch für einen (deutschen) Handelsreisenden; eine untüchtige Person. tilbage