Aus der Stadt

Ouvertüre

Wie lange und zäh sich der Sommer diesmal gehalten hat – nun muss er sich endgültig geschlagen geben.

Mehr als einen Augenblick lang schien es so, als wäre er bereits erlegen. Doch kaum hat man seine Nase in ängstlicher Hast in die Wintergarderobe gesteckt und sich in seinen Galoschen vergraben, schaut die Sonne schon wieder hinter den Wolken hervor und hält ihre schützende Hand triumphierend über unsere Köpfe, über die Bäume des Walls und die Blumenbeete des Magistrats.

Stück für Stück, Blatt für Blatt, hat der Herbst sich arglistig seine Beute zu eigen gemacht. In nächtlichen Stunden ist er durch die Straßen geschlichen, über die Marktplätze getobt und hat gegen die Fensterscheiben gedonnert, wie um den Schlafenden zu verkünden, er sei bereits Herr der Stadt.

Doch wenn man morgens seine Jalousien hochzog, lag das Sonnengold nicht weniger blank und ungestört auf den Pflastersteinen. Im Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenseite schnauften die Leute in Sommerkleidung mit dem Hut in der Hand; der Himmel war klar, die Vögel sangen, das Gras grünte … … bis der Kampf nun schließlich im unbarmherzigen Flügelschlag des südwestlichen Oktoberwindes endete.

Nun stieben bald die letzten Blätter und man fühlt sich wieder so behaglich zu Hause.

Für die Einwohner Kopenhagens hat ihre sommerliche Stadt nämlich etwas Befremdliches an sich. Wenn man im Laufe der Ferien dann und wann von seinem romantischen Waldrand oder idyllischen Fischerdorf dorthin muss, beeilt man sich schnellstmöglich wieder fortzukommen. Diese sauberen, trockenen und sonderbar stillen Straßen mit ihrem glühenden Pflaster und weißen, sanft klappernden Markisen über leeren Schaufenstern; diese Reihen zugezogener Vorhänge und mit Kreide bestrichener Fensterscheiben; diese nahezu ausgestorbenen Märkte, wo bierbäuchige Deutsche oder vornehme Schweden von einem rot eingebundenen Buch1 hochspähen – all dies zieht mit einem Hauch von Unwirklichkeit an einem vorbei, wie ein Traumbild, das man nicht mehr erkennt.

Erst wenn der Himmel wie eine schwarze Decke über den Dächern hängt und jede halbe Stunde seine dichten Regenschleier über die Straßen schleppt, erkennt man sein Kopenhagen wieder.

Und das richtig heimelige Gefühl stellt sich an jenem Tag ein, da man sich wieder mit triefendem Regenschirm und bis zum Hut bespritzt durch den Verkehr und das Menschengewimmel der Østergade arbeitet oder mitten auf dem Halmtorvet2 steht, um sich mit einem Droschkenkutscher zu streiten oder auf die Straßenbahn zu warten.

Es ist eine interessante und bewegte Zeit, in der die Stadt ihre Sommerhaut abstreift und alles wieder seinen gewohnten Gang geht.

Tag für Tag tauchen neue altbekannte Gesichter aus dem Gewimmel auf – an den vertrauten Orten und zu den gewohnten Zeiten. Es wird gegrüßt, Blicke treffen sich – männliche Handschläge und liebevolle Versprechen vor der anstehenden Kampagne3.

Es ist wie ein Neubeginn des Lebens nach dem langen müßigen Sommerschlaf!

Welch ein Gefühl, wenn man zum ersten Mal wieder in das Summen des Theaters tritt und hört, wie die Violinen im Orchester gestimmt werden, während man, auf die Balustrade des Parketts gestützt, durch das Opernglas die Damen auf dem Balkon inspiziert.

Und wie es einen andererseits rührt, die Tür zu dem Café zu öffnen, wo man gewöhnlich seinen Absinth trinkt und alles, bis zum Platz des Spucknapfes und der Verbeugung der Kellner, trotz der langen Trennung gänzlich beim Alten zu sehen.

Oder ob wohl das Herz manch junger Dame unter ihrem Korsett beim Anblick des zusammengeknüllten Kleids des letzten Balls schneller schlug, das nach allen Zeichen ungeduldiger Hast hingeworfen auf dem Schrankboden liegt? Ob wohl pochende Fieberröte ihre Wangen färbt, wenn sie den weißen Pappdeckel von dem Versteck der Seidenblumen, Ballkarten und Fächer mit dem schwachen, muffigen Duft nach Parfum öffnet – gerade stark genug, um glückliche Erinnerungen an Licht und Musik, Champagnerknallen, Lachen, Lächeln und einen kleinen blonden Schnurrbart wachzurufen. Denn man hat sich gesehnt – nach alldem hat man sich draußen an den romantischen Waldrändern und in den idyllischen Fischerdörfern gesehnt.

Selbst dort, wo man sich eine "Østergade" an der Küste mit Spaziergängen von 2-4 eingerichtet hat, ist man während des letzten Monats lechzend jedem kleinen gelben Blatt gefolgt und hat ungeduldig die Stunden bis zu jenem Tag gezählt, da man sich anständigerweise wieder mit seinem Möbelwagen in den Straßen der Stadt sehen lassen kann.

Die Angelausflüge auf dem See, die Blumen, die Düne, der Wald und das Meer – all das ertrank in dieser einen großen Sehnsucht nach dem Aufblühen unter der Gassonne und dem elektrischen Mondschein der Stadt.

 
[1] rot eingebundenen Buch: Baedekers deutscher Reiseführer. tilbage
[2] Halmtorvet: Heumarkt Kopenhagens, der sich bis Januar 1888 auf dem heutigen Rathausplatz befand. tilbage
[3] Kampagne: (fr.) Kampf, hier: zwischen den Geschlechtern. tilbage