Brief aus Kopenhagen

Wie jeder weiß, ist Kopenhagen eine Stadt des Theaters par excellence. Das geistige Interesse der gesamten Bevölkerung dreht sich um die Theater der Stadt. In den Dachkammern der Studenten, Gemüsekellern und Waschküchen von Kristianshavn bis Nørrebro – überall spricht man über Schauspieler, Rollenbesetzung und Intrigen hinter den Kulissen. Jedes neu aufgeführte Theaterstück wird mit einer Ernsthaftigkeit erörtert, als wäre die Darbietung ein weltgeschichtliches Ereignis. Und jeder junge Mann oder jede junge Dame, die mit einem Brief auf einem Silbertablett am Bühnenrand auftaucht, wird auf einmal zu einer interessanten Persönlichkeit, über deren Zukunftsaussichten man diskutiert, deren nächsten Auftritt man mit Spannung entgegensieht und deren vielversprechende Physiognomie uns aus allen Schaufenstern der Buchhandlungen erwartungsvoll anstarrt.

Es ist daher natürlich, dass der erste Brief, den ich Vilden aus Kopenhagen schicke, von jener Welt hinter dem Souffleurkasten handelt.

Kürzlich gab es ein treffendes Beispiel für das überspannte Interesse, mit dem man alles aufnimmt, was mit Theater zu tun hat. Einer der weniger bedeutenden Darsteller am Königlichen Theater, Herr Jerndorff, feierte neulich den fünfundzwanzigsten Jahrestag seines Bühnendebüts. Und just am selben Tag feierte ein anderer unserer Honoratioren, dessen Name gewiss auch in Schweden bekannt sein dürfte – der Brauer Jacobsen1 –, ein Jubiläum. Sicherlich kann man einiges für als auch gegen diesen Mann hervorbringen. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass er einer der größten und geschäftigsten Fabrikbesitzer unseres Landes ist. Er ist ein humaner Arbeitgeber für hunderte von Männern und Frauen, und er hat der Allgemeinheit auf vielen anderen Gebieten und in vielfacher Weise Interesse und Opferbereitschaft entgegengebracht. In einem Land, dessen Bevölkerung nicht derart hyperhysterisch wie die dänische wäre, hätte man wohl eher das Jubiläum dieses Mannes mit gehissten Fahnen und Trommelwirbel gefeiert als das eines zweitklassigen Schauspielers. Hier geschah das Gegenteil. Während die Zeitungen am Jubiläumstag knapp den Braumeister in kurzen, in Petit gesetzten Artikeln erwähnten, opferte jede von ihnen die erste Seite auf dem Altar Thalias. Ehrfurchtsvoll stieg Weihrauch aus ellenlangen Spalten empor und umhüllte das Bild des Schauspielerjubilars. Zum hundertsten Mal erwähnte man seine Biografie, präsentierte eine Auflistung seiner unbedeutendsten Rollen. Und besonders andachtsvoll verweilte man bei dem für die Nation höchst bedeutungsvollen Augenblick, als sich der junge Herr Jerndorff entschied, das Medizinstudium aufzugeben und sein Leben der Kunst zu weihen.

Das wirtschaftliche Ergebnis der Tätigkeit eines Schauspielers ist ebenfalls nicht zu verachten. Ein beliebter Schauspieler oder eine beliebte Schauspielerin wird höher als ein Minister entlohnt; sogar die zweitklassigen Herren der Privattheater kassieren Honorare, von denen ein dänischer Schriftsteller oder bildender Künstler nicht zu träumen wagt. Und am Königlichen Theater gibt es nachgewiesenermaßen Künstler, die in einem Jahr höchstens zehn Minuten auftreten, aber dessen ungeachtet einen höheren Lohn als ein Schreiber in einem Büro mit täglich zwölf Stunden Arbeit haben. Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass die Kulissenwelt als das gelobte Land erscheint, die das Verlangen so vieler ehrgeiziger Jünglinge und lebenslustiger Jungfern in ihren Bann zieht.

Das wäre legitim, wenn die künstlerischen Darbietungen unserer Schauspieler in einem angemessenen Verhältnis zur Beliebtheit stünden, derer sie sich erfreuen. Aber dies ist nicht der Fall. Jahr für Jahr hat sich das künstlerische Niveau verringert. Sogar im Königlichen Theater – ja, am häufigsten dort – sitzt man mit einem unangenehmen Gefühl, dass man ein Possenspiel sieht. Und es erweist sich gerade die übertriebene Beliebtheit der Schauspieler für ihre Kunst als verhängnisvoll. Der unersättliche Theaterhunger des Publikums, seine unkritische Bewunderung für die Götzen der Bühne demoralisieren die Schauspieler. Sie müssen sich nie anstrengen, um Beifall zu bekommen. Oh nein, Olof Poulsen braucht nur eine Grimasse zu machen – schon hallt das Lachen im Theatersaal wider; und wenn Frau Hennings bloß die Augen rollt, zückt man vom Parkett bis in die Ränge die Taschentücher.

Doch – auf einer Bühne der Stadt, im Dagmartheater, hat man in den vergangenen Jahren Anzeichen gesehen, die von einer Wiedergeburt der Bühnenkunst künden. Eine Schar junger, betriebsamer, künstlerisch interessierter Talente hat sich hier versammelt und arbeitet daran, eine Bühne hervorzubringen, die ein neues künstlerisches Bestreben ermöglicht. Und bislang war ihre Arbeit von Erfolg gekrönt.

Hier spürt man tatsächlich ein Streben nach neuen und großen Aufgaben. Hier scheint man eingesehen zu haben, dass die Schauspielkunst der Schwindsucht anheimfällt, wenn sie nicht nach Erneuerung strebt und an der modernen Literatur gesundet.

Hier hat man Schauspiele aufgeführt, die das Königliche Theater – seine Pflicht vergessend und zu seinem eigenen Schaden – versäumte, seinem Repertoire einzuverleiben. Ein Großteil der Werke der jüngeren Schriftstellergeneration ist in den vergangenen Jahren auf der Bühne des Dagmartheaters aufgeführt worden, und die Folgen zeigen sich bereits. Die dramatische Dichtung in Dänemark hat bis vor Kurzem nur einen einzigen bedeutenden Vertreter gehabt: Edvard Brandes; aber jetzt strömt plötzlich Leben in die dramatischen Adern der jüngeren Dichter. Denn es gibt mehr als einen dieser debütierenden dramatici, an denen sich das schwedische Publikum erfreuen würde. Gewiss hätten Lustspiele wie Stamherren von Jens Petersen oder seelenvolle Liebesdramen wie Antoinette von Poul Levin Aussicht, auch auf der anderen Seite des Sunds bekannt zu werden.

In den vergangenen Jahren ist im Dagmartheater ebenfalls die ausländische dramatische Literatur zu Ehren gekommen. Neulich führte man Gerhard Hauptmanns Die Weber auf. Dieses Theaterstück brachte seinem Verfasser die höchste Ungnade bei Kaiser Wilhelm ein, und – als Trost – weltweite Bekanntheit und Reichtum. Das Deutsche Theater in Berlin spielte es mehr als 200 Mal vor ausverkauftem Haus. Nichtsdestoweniger ist es als Drama ein ziemlich wertloses Produkt. In Kopenhagen fiel es demzufolge durch. Es ist ein grob gefertigtes Volksschauspiel, obendrein ziemlich sentimental. Eine Reihe einförmiger Tableaus ohne Hauptfiguren – kurz gesagt, eines dieser fragwürdigen Theaterstücke, in denen der Regisseur zusammen mit den Statisten die Hauptrolle spielt. Seine Bedeutung liegt wohl darin, dass es einen Teil kulturhistorischer Bilder aus der Mitte des Jahrhunderts abspult; aber das fesselt Ausländer nicht auf dieselbe Weise wie Deutsche.

Man hat dieses Drama mit dem zweiten Teil von Bjørnsons Über unsere Kraft verglichen. Aber in der Tat haben diese zwei Arbeiten nicht viel gemeinsam. Hauptmanns Werk ist das Ergebnis eines nüchternen Rückblicks, Bjørnsons das eines besorgten Blicks in die Zukunft.

Urbanus


Lieber Urbanus!

Ich grüße dich höflich und danke dir für die Ehre, mir die Schöpfungen aus deiner eleganten Feder vorzuführen!

Hat man eine Zeit lang in Kopenhagen gelebt, versteht man die Stimmung, die deine geistreiche Attacke gegen den hysterischen Kult ausgelöst hat. Es gibt ihn auch in unserer Hauptstadt, auch wenn er – Gott sei Dank! – noch nicht derart kolossale Dimensionen angenommen hat.

Allerdings …

Würdest du die Zustände der Theater in Stockholm kennen, fielest du wahrscheinlich im Geiste vor Olof Poulsen und Frau Hennings auf die Knie.

Was den Brauer Jacobsen betrifft, ist er gewiss, wie du sagst, ein humaner Arbeitgeber. Außerdem braut er ein vortreffliches Bier. Dafür hätte man gerne bei seinem Jubiläum die Flaggen hissen können. (Wenngleich es nicht vollkommen klar ist, ob er als Brauer oder Mensch sein Jubiläum feiert). Und wenn er jetzt Julius Langes Platz als Direktor der Skulpturensammlung einnimmt, kann er in 25 Jahren ein weiteres Jubiläum feiern; und dann sollte man ihn einigermaßen anständig für seine Verdienste entlohnen.

Im Übrigen wäre es vielleicht am besten, wenn man alle Jubiläen abschaffte. Außer für Dichter und Könige!

Vilden

 
[1] Carl Jacobsen (1842-1914) war Brauer, Kunstsammler und Stifter. Er war der Sohn des Gründers der Carlsberg-Brauerei, J.C. Jacobsen, und gründete unter anderem die Ny Carlsberg Glyptotek, eines der bekanntesten Kunstmuseen Kopenhagens. tilbage